Wie könnte man abstreiten, dass es unterschiedliche spirituelle - menschliche überhaupt - Reifegrade gäbe? Es gibt doch vom geistlich völlig dumpf (ungläubig, unwissend) bis zum geistlich überaus wachen (gläubigen, erkennenden) Menschen jedwelche Abstufung. Gerade Sundar Singh[1] ist auch ein Beispiel eines spirituell reifen Menschen. Und wenn du die Bibel liest, siehst du durch das alte wie durch das neue Testament hinweg eine Vielzahl von Beispielen die die Tatsache dieses Reifeprozesses - dieser 'Stufenleiter' - belegen. In 1.Joh 2,12-14 beschreibt Johannes diesen geistlichen Reifeprozess mit folgenden Bildern: Er nennt
- Kindlein, wem die Sünden vergeben sind um seines Namens willen;
- Kinder, wer den Vater erkannt hat;
- Jünglinge, wer den Bösen überwunden hat und in wem das Wort Gottes bleibt; und
- Vater, wer den kennt, der von Anfang an ist.
Leider ist ein Grossteil der Christenheit nicht willens, diesen spirituellen Reife- und Läuterungsweg tatkräftig anzupacken und weiterzugehen. Es genügt nicht, beim Kreuz und der zugesprochenen Vergebung stehenzubleiben und an diesem Milchschoppen jahrein jahraus rumzunuckeln. Man sollte dann auch mal zur kräftigeren Nahrung übergehen, wie ja Paulus auch schon beklagte, und die eigene Herzensläuterung, die eigene Sündenüberwindung und die Überwindung des Bösen im eigenen Herzen wirklich angehen. Christliche Kleinkinder gibt es viele. Kinder, die ihren Vater kennen, auch einige. Jünglinge, die den Bösen überwunden haben sind schon relativ selten. Väter, die den kennen, der von Anfang an ist, sind so rar gesät wie überall auf der Welt und zu allen Zeiten der echten Weisen und Heiligen wenige sind:
Denn eng ist die Pforte und schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind, die ihn finden. (Mt 7,14)
Du sagst: „Mir genügt der bescheidene Glaube eines Sundar Singh, der alles enthält, was ich erwarte.“ Der bescheidene Glaube? Sundar Singh war ein tiefer Mystiker[2] und hat den Bösen in sich radikal überwunden. Er war absolut Herr über seine schönen und über seine qualvollen Erlebnisse, nichts konnte seinen Glauben erschüttern. Das ist Reife, spirituelle und menschliche Reife. Natürlich war ihm das nicht aus seinem Ego-Ich möglich: Es war Christus in ihm, der Sohn Gottes, der dies möglich machte. Aber Sundar hat daran auch gearbeitet, er ist nicht beim Milchschoppen stehen geblieben, er hat sein Ich überwunden und das göttliche Ich Christi in sich realisiert.
Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen. Joh 3,30
Das geschieht nicht von alleine, während ein Christ sich im weltlichen Wohlstand und Vergnügen suhlt. In einem schönen Buch von Helmut Hecker[3] über Meister Eckehart schreibt Hecker (es geht dort um vier Glaubenshaltungen: Unglaube, Blindgläubigkeit, Tiefgläubigkeit und gläubiges Interesse):
Der Blindgläubige ernährt sich von Stroh (Anm: bezieht sich auf ein vorheriges Gleichnis, wir könnten in unserem Zusammenhang auch sagen: vom Milchschoppen), der Tiefgläubige lässt es beiseite und geht weiter seinen Weg, auf dem die grossen Heiligen immer schweigsamer mit Aussagen über Gott wurden, so wie schon weiland der Heilige Augustinus[4], der da sagte: Was man von Gott spricht, das ist nicht wahr, und was man von ihm nicht spricht, das ist wahr. Und in diesem Schweigen wird er einig mit den Tiefgläubigen anderer Religionen. Der tiefgläubige Moslem, Hindu, Jude oder Christ gleichen sich wie ein Ei dem anderen, während zwischen dem Blind- und dem Tiefgläubigen derselben Religion ein Unterschied besteht wie zwischen Tag und Nacht. Derart Tiefgläubige hat es immer, zu allen Zeiten und allerorten nur wenige gegeben:
Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt. (Matth. 20,16)
[1] Sundar Singh (* 1888 in Rampur, Patiala; † unbekannt,
zuletzt lebend gesehen vor seiner 1929 begonnenen Reise in den Himalaya) war
ein indischer Christ, der nach der Art eines Sadhu umherzog. Sundar Singh ist
der erste indische Theologe, der seine Verkündigung ganz innerhalb des
indischen Kulturkreises entwickelte. Das bedeutete auch, dass er auf westliche
Philosophie verzichtete und die eigenen indischen Traditionen heranzog. Dadurch
erreichte er gerade die einfachen Menschen. Dem Einwand aus hinduistischen
Kreisen, er verkündige eine fremde Religion, begegnete er mit dezidiert
indischen Argumentationsmustern. Auf zwei Reisen, die ihn nach England, USA und
Australien, und Schweden, Dänemark, Deutschland, die Schweiz und Norwegen
führten, lernte er die westliche Zivilisation kennen. Er kritisierte den
westlichen Materialismus und seine mangelnde Spiritualität. 1929 trat er eine
erneute Reise nach Tibet an, kam aber dort nicht an. Verschiedene
Suchexpeditionen blieben ohne Erfolg. Man nimmt an, dass er entweder einem Gewaltverbrechen
zum Opfer fiel oder an Cholera starb. Auch über 70 Jahre nach seinem
Verschwinden bleibt Sadhu Sundar Singh einer der einflussreichsten indischen
Christen des 20. Jahrhunderts, da er mit seinem Leben bewies, dass das
Christentum keine westliche und mit der indischen Kultur nichtkompatible
Religion ist. (Wikipedia)
[2] Der
Ausdruck Mystik (von
griechisch μυστικός mystikós
„geheimnisvoll“) bezeichnet Berichte und Aussagen über die Erfahrung einer
göttlichen oder absoluten Wirklichkeit sowie die Bemühungen um eine solche
Erfahrung. (Wikipedia)
[3]
Hellmuth Hecker: „Meister Eckehart, der
tiefste Mystiker des Abendlandes und die Lehre des Buddha“. Hellmuth Hecker (* 12. Oktober 1923 in
Hamburg) ist Jurist und einer der profiliertesten deutschen Interpreten des
Theravada-Buddhismus, Chronist des Buddhismus in Deutschland sowie Übersetzer
aus dem Pali-Kanon. (Wikipedia)
[4] Augustinus
von Hippo, (* 13. November 354 in Tagaste, heute Souk Ahras in
Algerien; † 28. August 430 in Hippo Regius in Numidien, heute Annaba in
Algerien) war einer der bedeutendsten christlichen Kirchenlehrer und ein
wichtiger Philosoph an der Epochenschwelle zwischen Antike und Mittelalter. Er
gilt als der Vater und Schöpfer der theologischen und philosophischen
Wissenschaft des christlichen Abendlandes und wird deshalb als „Kirchenvater“
bezeichnet. (Wikipedia)